Veröffentlicht am
30. Oktober 1995

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"Das Fundament sprengen"

Eine neue Programmiersprache soll echtes Multimedia ins Internet bringen.

Von Bernd Wendorf

Das kleine Programm hört auf den poetischen Namen "Die Zuflucht des Pythagoras". Es kann nicht viel mehr, als den berühmten Lehrsatz des griechischen Philosophen über rechtwinklige Dreiecke in bewegter Grafik darzustellen. Dennoch könnte das Applet, so der Fachbegriff, Vorbote eines neuen Zeitalters im Netz der Netze sein.

Jim Morey, Mathematikstudent an der Universität von British Columbia, hat mit seiner Animation mehr als 60 Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. In einem Wettbewerb des amerikanischen Computerriesen Sun Microsystems erhielt er den Großen Preis für die beste Anwendung, die in der neuen Programmiersprache Java geschrieben wurde.

Java wurde im April '95, nach vier Jahren Forschungsarbeit, von Sun auf die Entwicklerzunft losgelassen. In typisch amerikanischer Bescheidenheit verkündete das kalifornische High-Tech-Unternehmen, dessen Server einen beträchtlichen Teil der Infrastruktur im globalen datennetz stellen, nun sei endlich "eine revolutionäre objektorientierte Programmierumgebung für das Internet" verfügbar.

Das Unternehmen sieht sich als Pionier auf dem Weg zum Online Publishing des nächsten Jahrtausends. Mit Hilfe der Applets, die in Java geschrieben werden, sollen Interaktivität und echtes Multimedia im World Wide Web Wirklichkeit werden.

Die Programme ermöglichen es, Text, Bilder und Töne flexibel darzustellen. An seinem Monitor kann der Benutzer Laufschriften und animierte Bilder genießen oder dreidimensionale Gebilde beliebig in Bewegung versetzen. Sekündlich aktualisierte Börsendaten, die übers Netz in seinen Computer kommen, sieht der Anwender sofort auf dem Bildschirm, ohne daß die gesamte Seite neu aufgebaut werden muß.

Bei diesem Verfahren werden Applets wie das Pythagoras-Programm zum Rechner des Benutzers übertragen und dort in den Arbeitsspeicher geladen. Der Datenstrom kommt in einem Bytecode an, der unabhängig davon, mit welcher Hardware der Netsurfer ausgestattet ist, auf dem jeweiligen Rechner übersetzt und ausgeführt wird.

Doch so ungetrübt, wie Sun es verspricht, wird die Freude bei den Internet-Nutzern - nach neuen Schätzungen bis zu 50 Millionen weltweit - vorerst nicht sein. Damit die Multimedia-Daten ungehemmt fließen können, braucht der Anwender hohe Prozessorleistung in seinem Computer und vorzugsweise eine ISDN-Leitung dahinter.

Die Aufrüstung der Personalcomputer ist bereits im Gange, weil die zunehmende weltweite Vernetzung und komplexe Software wie Windows 95 immer größere Ansprüche an die Hardware stellen. Doch der Multimedia-Traum, der via Telefonleitung bunte bewegte Bilder auf die Computerbildschirme zaubert, funktioniert nur auf einem echten Datenhighway. Experten fürchten, daß mit der anschwellenden Datenflut und dem Andocken neuer kommerzieller Online-Dienste die Kapazitäten des Internet bald ausgereizt sind - mögliche Folge: Blackout statt bunte neue Welt.

Ohnehin ist der multimediale Augenschmaus derzeit noch den Anwendern vorbehalten, die sich eine Beta-Version des Web-Browsers HotJava auf ihre Festplatte laden. Er ist schlechter zu bedienen und hat weniger Funktionen als der Browser von Netscape, den etwa drei Viertel der Anwender zum Surfen im World Wide Web verwenden. Die Ankündigung von Netscape, Java-Applets in der nächsten Version des Navigators zu unterstützen, hat deshalb die Erfolgsaussichten für das ehrgeizige Projekt gewaltig gesteigert.

Die Reaktionen der Programmierer auf Java sind außerordentlich positiv. In einer E- Mail-Umfrage im Internet sprachen sich 978 Interessenten für die Einrichtung einer Newsgroup comp.lang.java aus, nur zwölf hielten ein derartiges Forum für überflüssig.

Das Diskussionsforum erfreut sich mittlerweile einer "außergewöhnlich breiten Unterstützung" wie der Initiator feststellt. So beteiligen sich alle führenden Universitäten in den USA, zahlreiche unabhängige Entwickler aus aller Herren Länder und führende Forschungseinrichtungen wie das Massachusetts Institute of Technology (MIT) oder XeroxParc an der Diskussion, was der Start in eine neue Phase des elektronischen Publizierens bedeutet. Die Portierung von Java auf alle maßgeblichen Betriebssysteme von Apple bis Unix innerhalb der nächsten Monate stellt sicher, daß dabei keine Plattform außen vor bleibt.

Scott McNealy, Mitbegründer und Chef von Sun, sieht goldene Zeiten für freischaffende Softwareautoren kommen. Das Revolutionäre an den Java-Applets ist nach seinen worten, daß sie auf jedem beliebigen System laufen - egal ob Windows, OS/2, Unix oder Macintosh: "Die Marktmacht großer Softwarefirmen beruht auf den traditionellen Vertriebswegen. Die freien Autoren bieten zukünftig Millionen von Computerbenutzern die nur einmal geschriebenen Programme über das Internet an. Das direkte Geschäft mit dem Anwender könnte das Fundament sprengen, auf dem Microsofts Monopol ruht."

Bernd Wendorf, 33, ist Magister der Geschichtswissenschaft; er arbeitet in Hamburg als Redakteur und Webmaster beim Mac MAGAZIN.


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